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Tunesien

Die Geburtsstätte des Mistrals liegt im Süden Frankreichs, irgendwo im Rhonetal. Wenn dort der Luftdruckunterschied 15 Hectopascal und mehr ausmacht, ist es so weit: Die Luft wird klar und das Barometer steigt. Jetzt hast du noch sechs Stunden Zeit bis zum Beginn Deines Traumes.

Nebils Worte haben mich völlig eingelullt. Ich befinde mich in einem Zustand der Verwirrung, als unser Jeep sicher die letzten Hügel vor dem Strand hinter sich lässt. In seiner Stimme schwingt der Stolz der Berber mit und ich bin verzaubert. Er erklärt uns, dass in den letzten dreitausend Jahren jeder Mittelmeerstaat irgendwann einmal Tunesien erobern wollte und dass seine Vorfahren kontinuierlich um ihre Freiheit kämpfen mussten. Karthago, der Name des tunesischen Flughafens, erinnert an die Punier, ein friedliches Volk von Händlern, die nur einen Fehler hatten, nämlich den Römern im Weg zu sein. Nach zwei furchtbaren Kriegen, die unter dem Motto „Cartago delenda est“ („Karthago muss zerstört werden“) den südlichen Mittelmeerraum erschütterten, brannten meine Vorfahren im Jahre 146 v. Chr. die Hauptstadt nieder.

Das gab uns natürlich zu denken, zumal wir drei, Fotograf Emiliano, Ale Maddaleni und ich, ungefähr die gleichen Interessen an dieser Gegend hatten wie die römischen Soldaten von Scipio: Wir waren an der Küste interessiert und an ihrer beneidenswerten Lage am Mittelmeer. Natürlich unterschied sich unser Ziel von dem des römischen Senats. Wir wollten weder Küstendörfer plündern noch die Macht an uns reissen, sondern ungesurfte Riffe und Strände entdecken, die 150 Tage im Jahr von einem Mistral-Swell heimgesucht werden. Wellen, die auf der anderen Seite des Mittelmeers entstehen und dann ungehindert die breiteste Stelle des Meeres durchqueren. Wir können diese Küste getrost als Endstation für den Mistral bezeichnen, weil an diesem Küstenstreifen alle Swells enden, die weiter nördlich in Sardinien oder Italien gesurft werden.

Wir lassen uns nördlich der Hauptstadt nieder, in einem Ort, der als Unterschlupf für die berühmt-berüchtigten Saladinier diente. Die Saladinier waren arabische Piraten-„Ungläubige“, die italienische, spanische und französische Küstenbewohner seit dem Mittelalter in Angst und Schrecken versetzten. Bizerte ist im Winter ein verschlafener Ort, der sich durch ein paar Touristen und einen kommerziellen Hafen finanziell über Wasser hält. Auf dem Markt in der Kasbah liegt der Geruch von Minztee und Gewürzen in der feuchten Luft. Über uns jagen die Wolken – ein Zeichen dafür, dass der Mistral überall sein gleiches Gesicht zeigt.

Die erste Welle, die uns auffällt, ist eine grosse Left, die über ein Offshore-Riff auf der geschützten Seite der Stadt läuft. Wir sehen sie uns durch Emis 600er-Fotoobjektiv an und entdecken etwas weiter weg noch einen weiteren Break. Wir beschliessen, unseren Reiseschweiss gleich am Spot abzuwaschen und suchen uns unter den unzähligen Riffen einen Line-up aus. Kein Grund zur Eile, der Swell bleibt.

Als es darum geht, die Gegend zu entdecken, entpuppt sich Nebil als ein Geschenk des Himmels. Er ist einer der drei einzigen Surfer in Tunesien und einfach der beste Spot Guide, der gleichzeitig seine Kultur herüberbringt. Eine Woche lang zeigte er uns tagsüber perfekte Riffe und abends das beste Nachtleben. Tunesien durch einen Tunesier zu erkunden öffnet einem wirklich die Augen. Obwohl Tunesien ein moslemisches Land ist, gelten hier weniger drastische Gesetze – weder Scharia noch Hinrichtungen. Nebil erklärt uns, dass Frauen in Tunesien die gleichen Rechte hätten wie Männer und dass Poligamie hier verboten sei. Wegen des sprichwörtlichen Unternehmensgeists der Tunesier ist das Land sozial stabil und hat sich zum weit entwickelten Staat in Afrika gemausert.

An unserem ersten Morgen auf afrikanischer Erde blinzeln wir faul aus dem Fenster des Hotelzimmers. Der Wind hat von Nordwest auf Südwest gedreht und wir haben Hoffnungen auf Offshore-Bedingungen nördlich von Bizerte. Ein Anruf von Nebil genügt, um uns innerhalb von fünf Minuten ins Auto zu schaffen. Wir treffen ihn an einer lang gezogenen Bucht namens La Grotte, in der es vor Riffen und Beachbreaks nur so wimmelt. Die Wellen sehen vom Ufer recht harmlos aus, doch als ich mir die Takeoff Section vom Channel etwas genauer betrachte, bemerke ich, dass es das Wasser von einem ziemlich flachen und unbekannten Riff absaugt. Bei dem Spit der Barrel wird mir geradezu mulmig, doch als ich Ale mit einem Grinsen auf dem Gesicht nach seiner ersten Welle sehe, komme ich langsam auch in den Rhythmus und geniesse unsere Session. Die Welle bricht auf einem versandeten Riff, trifft auf die Kante und bäumt sich auf. Die Inside Section durchzusurfen ist kein Problem. Allerdings kann die letzte Section, wo die Welle auf Felsen explodiert, den Finnen zum Verhängnis werden. Trotz der Tatsache, dass wir uns doch in einem relativ kleinen Meer befinden, sind wir erstaunt, wie viel Kraft die Welle entwickelt. Sie ähnelt eher den Breaks von Hossegor als dem durchschnittlichen Mittelmeer-Kabbelwasser. Nach zwei Stunden haben wir genug schöne Rides auf Afrikas nördlichster Welle bekommen und geniessen nur noch den Ausblick. Hinter uns ragen weisse Klippen in den Himmel, vor uns erstreckt sich das satte Blau des Mittelmeers.

Nach einigen Tagen hören wir direkt auf Nebil, wenn es um Spot-Entscheidungen geht. Bei jeder neuen Entdeckung amüsiert er sich über unsere Gesichter, während wir auf perfekte Wellen starren, die er seit Jahren für sich alleine hatte. Er zeigt uns viele unbekannte Schätze der Küste, doch am letzten Spot vergeht uns das Lachen. Die Schönheit der Landschaft und die dazu passende Welle verschlägt uns die Sprache. Grünes Wasser bricht am Bug eines halb versunkenen Schiffes, als wir die Sanddünen durchqueren. Ein leichter Offshore-Wind zerstäubt den Wellenkamm und der Spray steht im Kontrast zu dem rostig braunen Wrack im Hintergrund. Der Swell ist sauber und die Lefts laufen vom Bug an den Kränen des Hauptdecks vorbei und verbinden sich mit einer Inside-Welle bis zu einem anderen, kleineren Wrack am Ufer.

Wir rennen nicht gleich ins Wasser, sondern sehen uns erst auf dem gigantischen Geisterschiff um. Die Swells, die wir suchen, werden diesem Schiff zum Verhängnis. Mit jeder Welle, die gegen seinen metallenen Rumpf brandet, hallt ein dumpfer Ton wie Donner zurück. Das Wrack zittert förmlich vor dem Mistral-Swell. Wir gehen in den riesigen Bauch des Schiffes, während die Wellen gegen den Rumpf hämmern und uns daran erinnern, dass wir da draussen ja noch Arbeit vor uns haben. Dieser Spot hat schliesslich eine Ewigkeit warten müssen, bis ihm jemand Bedeutung zuspricht. Schnell ziehen wir uns an.

Wir paddeln durch den Channel im Riff und kommen mit trockenen Haaren am Wrack an. Da wir die Einzigen im Line-up sind, müssen wir uns erst einmal orientieren. Das Wasser ist so glassy, dass man zwischen den Wellen kaum die Takeoff Section erkennen kann. Gerade so bekommen wir noch die dritte und vierte Welle des Sets. Die Wellen sind kopfhohe Lefts und ziemlich komisch zu surfen. In der Inside kann man ein paar gute Turns hinbekommen, bevor die Welle auf Metall knallt. Als ich aus meiner letzten Welle – eine der grössten des Tages – herauskicke, explodiert gerade eine Close-out Section auf das Schiff und der Spray schiesst hoch bis zum Deck. Ich spüre den Donner in Form einer Vibration. So habe ich Wellen noch nie erlebt.

Nach zwei Tagen nimmt der Swell auf der windgeschützten Seite ab, und als wir am dritten Tag aufwachen, sehen wir saubere, windlose Lines direkt vor dem Dorf. Wir checken ein paar Wellen und beschliessen dann, die Left vor der Grundschule zu surfen. Die Mistral-Wolken sind verschwunden, die Sonne scheint und der Swell ist kopfhoch. Emilianos Kamerastativ zieht Neugierige an. Nebil erklärt den Kids, dass die Wellen vor ihrer Haustür die besten des Mittelmeeres seien und dass auch sie hier surfen gehen könnten.

Nebil scheint das Wellenreiten ziemlich gut erklärt zu haben. Als wir nach einer langen Session an den Strand kommen, begrüssen uns lächelnde Kinder. Ich frage mich, welchen Eindruck wir wohl hinterlassen. Was werden sie von Surfen und Surfern denken, wenn wir wieder weg sind? Werden sie es vergessen oder vielleicht vom Surfen träumen? Die Sprachbarrieren lassen Antworten auf meine Fragen nicht zu. Ich wäre nicht überrascht, bei meinem nächsten Trip nach Tunesien einige Kids surfen zu sehen. Es wäre schön, mit ihnen das Geschenk des Mittelmeeres zu teilen.

Bei unserer Abreise spricht die Wettervorhersage von einem neuen Mistral, der im Rhonetal aufkommt und Tunesien sechs Stunden später wieder mit Wellen versorgen wird. Widerwillig packen wir unser Zeug zusammen und ignorieren die dunklen Wolken im Norden, die einen weiteren ungesurften Swell nach Karthago bringen. Doch es ist klar: Wir werden wiederkommen.

Text: Emiliano Cataldi
Photos: Emiliano Mazzoni

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