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Gasoline Project: Die Fährwelle im Ghetto von Lissabon

Der Münchner Surfer Yoyo Terhorst besuchte einen Freund im Lissabonner Vorstadt-Ghetto, um eine der besten Fährwellen der Welt zu surfen.
Was er neben perfekten, 400 Meter langen Wellen und einem Messer an der Brust seines Freunds noch fand, war das „Gasoline Project“!

Vier Uhr morgens: Der Wecker klingelt. Kurze Zeit spiele ich mit dem Gedanken, ihn einfach auszuschalten und weiterzuschlafen, denn wir waren am Vortag erst spätabends bei Freunden in Portugal angekommen. Und wie das bei solch einem Wiedersehen so ist, gab es natürlich noch ordentlich Essen und guten Wein. Als ich jedoch daran denke, was uns bevorsteht, verwerfe ich den Gedanken ans Weckerausschalten sehr schnell. Ich schiebe die Decke beiseite, quäle mich aus dem Bett, krieche halbwegs wach nach nebenan, um meinen Kumpel Bernie zu wecken. Wenig später sitzen wir im Auto – draußen ist es noch stockfinster – und düsen Vollgas Richtung Lissabon. Zwischen „Blitzer gibt’s hier nicht, das können die sich in der Krise gar nicht leisten“ und „Hey Bernie, wach bleiben!“ versuchen wir, trotz wenig Licht den Weg zu finden. Unser Ziel liegt irgendwo auf der südlichen Seite des Tejo… irgendwo flussaufwärts… irgendwo in der Nähe irgendeines Fährhafens von irgendeinem „Ghetto“. Was wir dort surfen wollen? Nein, Tidal Bore war letztes Jahr (siehe „Rumble in the Jungle“).

Wir fahren dorthin, um eine Fährwelle zu surfen. Wie genau das Ganze aussieht und was uns dort erwartet, wissen wir auch nicht. Jedenfalls schaffen wir es gerade so, pünktlich um halb sechs an der vereinbarten Tankstelle zu stehen und unseren Fotografen Ricardo zu treffen, ohne den wir den weiteren Weg auf keinen Fall finden würden. Dieser führt uns daraufhin erst durch mehrere kleine Städtchen, Felder und Gassen. Langsam wird es hell und wir können zum ersten Mal unsere Umgebung wahrnehmen. Wir fahren durch winzig kleine Gassen, rechts und links von uns stehen alte, halb verfallene Häuschen, deren Wände ausgesprochen viele und gute Graffiti zieren. Wenige Minuten später verlassen wir das urbane Umfeld und rollen auf einer Art Halbinsel auf einen Parkplatz, auf dem sich einige düstere Gestalten herumtreiben. Ich muss zugeben, ich bin doch einigermaßen beruhigt, als ich am Ende des Parkplatzes schon Ricardo Carrajola, den „Big Boss“ des „Gasoline Project“, und seine Kumpels sehe. In dieser Gegend sind ein paar bekannte Gesichter nicht verkehrt.

Ein kurzes Shakehands, schnelles Umziehen und los geht’s eine große Strandzunge runter, denn: „Die ersten Boote fahren gleich“, sagt Ricardo. Auf dem Weg betrachte ich die Szenerie und bemerke, dass der Strand eher an die Südsee erinnert. Hinter uns Palmen, der Strand übersät von außergewöhnlichen Muscheln und bis auf zwei Austernsammler kein Mensch weit und breit. Ricardos Kumpels Paulo und João laufen geübt und zielstrebig ins Wasser. Wir wollen das Gleiche tun, werden aber von Ricardo zurückgehalten, der leider am Strand bleiben muss, weil er gerade eine Knieverletzung auskuriert. Er erklärt uns, wo wir sitzen müssen, woran wir uns orientieren und auf was wir achten müssen. Gerade kommt das erste Boot angeschossen. Wir sprinten ins Wasser, während Ricardo uns noch einige Dinge hinterherruft.

Die erste Welle verpassen wir leider, aber wir dürfen zusehen, wie die beiden anderen an uns vorbeisurfen, und sind beeindruckt von der Welle. So groß und perfekt hatte ich sie nicht erwartet. Wir positionieren uns und warten auf die nächste Welle. Als das Boot kommt, paddeln wir los. Es ist sehr schwer zu sehen, ob man richtig sitzt, weil man die Welle erst richtig sehen kann, wenn sie schon fast hinter einem ist. Aber ich scheine nicht schlecht zu sitzen und paddele Vollgas. Ich habe die Welle. Leider aber auch João, da er ein Stück tiefer ist als ich. Daher ziehe ich zurück und sehe ihn von hinten eine perfekte kopfhohe Schulter entlangschießen.

„Nächstes Mal klappt’s!“, nehme ich mir vor und versuche, mich wieder an den uns genannten Punkten auszurichten. Da die Boote nur alle zehn Minuten fahren, hat man in der Zwischenzeit viel Zeit, um sich zu unterhalten oder zu relaxen. Als Ricardos Kumpel zurückgepaddelt kommt, bleibt er kurz neben mir liegen und erklärt mir, dass es in ihren Wellen keine Vorfahrtsregeln gebe, dass wir hier unter Freunden seien und ich beim nächsten Mal einfach reindroppen solle. Ich bin etwas verwundert, aber als er meint, dass sie dort selten zu mehreren als zu viert surfen und ja nur alle zehn Minuten je eine Linke und eine Rechte durchkommen würden, verstehe ich langsam den Sinn der ganzen Regel.

Die nächste Welle kommt. „Das ist deine!“, rufen die Jungs und ich gebe wieder alles. Keiner der anderen paddelt mit. Anscheinend haben sie Bedenken, ich könnte wieder zurückziehen. Gerade so mit den letzten Paddelzügen erwische ich die Welle, mache den Takeoff und fahre erst einmal entspannt vor mich hin. Die Welle ist wirklich perfekt. Sie ist etwas kleiner als die vorherigen, knapp unter schulterhoch, läuft aber perfekt. Allerdings merke ich schnell, dass sie schon kleine Sections hat, die man lesen muss, um die Welle nicht zu verlieren. Auch die Brechungsgeschwindigkeit und der Shape der Welle variieren mit dem Untergrund. Im Prinzip hat man hier eine perfekte Welle wie am Meer, die sozusagen künstlich erzeugt wird. Der perfekte Training Ground, denn so gut kann kein Wavegarden sein, dass man dort auch so gut das Wellenlesen lernen könnte. Ich bin inzwischen wahrscheinlich schon 200 Meter gesurft und spüre es in den Beinen, da zieht die Welle auf einmal richtig an. Ich versuche noch, Gas zu geben, sehe, dass sie hohl wird, und will in eine Mini-Tube ziehen. Aber die Welle ist zu schnell und ich habe zu spät geschaltet. Trotzdem, was für eine unglaubliche erste Welle an einem völlig geheimen Traum-Spot mitten im Vorstadt-Ghetto von Lissabon!

Während ich zurück zu den anderen paddele, kann ich mein Glück kaum fassen. Zu dem ganzen Wahnsinn dazu ist auch das Wasser mindestens 5 bis 6 °C wärmer als im Meer. Als ich wieder bei den anderen ankomme, jubeln sie mir zu. Ein freudiges High Five mit den Jungs und wir richten uns wieder erneut aus. Während wir auf das nächste Boot warten, erzählen die Brüder Paulo und João, wie es dazu kam, dass sie diese Welle entdeckt und gesurft haben. Es handelt sich hierbei um eine Gruppe von fünf Leuten, die knappe 20 Autominuten von der Küste in einem sehr verarmten Vorort von Lissabon wohnen. Alle fünf teilen die Leidenschaft fürs Surfen, doch keiner hat ein Auto und mit öffentlichen Verkehrsmitteln muss man zwei Boote und drei Busse nehmen, um zum nächstgelegenen Spot an die Küste zu kommen.

Das Ganze würde zweieinhalb Stunden dauern. Aus diesem Grund fingen sie vor gut 15 Jahren an, diese Fährwellen direkt vor ihrer Haustür zu surfen. Anfangs war das Ganze noch recht schwierig, denn wie schon erwähnt ist die Welle sehr schwierig einzuschätzen, bevor man sie erreicht; zudem funktioniert sie an einigen Stellen der Landzunge besser als an anderen. Doch über die Jahre haben die Jungs das Ganze so perfektioniert, dass sie hier sogar blind surfen könnten. Inzwischen gibt es auch neuartige Fähren, die mehr Wasser verdrängen, und die Jungs haben sich mit einigen der Bootsführer angefreundet, die beim Verlassen des Hafens richtig aufs Gas gehen, um den Jungs eine größere Welle zu verschaffen.

Zwischen all den Geschichten nehmen wir eine Welle nach der anderen. Mal allein, mal zu zweit und sogar zu dritt. Die Session neigt sich dem Ende zu, denn Surfen kann man hier nur frühmorgens während der Rush Hour, weil die Boote dann in kürzeren Abständen fahren und mehr beschleunigen. Zudem sind die Fähren stärker beladen und verdrängen mehr Wasser. Noch geht es allerdings und wir nutzen jede einzelne Welle. João und mir gelingt es sogar einmal, je eine der Rechten zu bekommen, die sehr schwer zu erwischen sind. Die Welle von João war mit geschätzten 400 Metern die längste des Tages. Plötzlich sagt einer der Jungs ganz unvermittelt: „Die nächste ist die letzte Welle.“ Unvorstellbar, dass das Ganze dann nicht mehr funktionieren soll! Doch als wir aus dem Wasser kommen und uns umziehen, kommt das erste Boot nach der Rush Hour vorbei. Und tatsächlich: Die Welle ist vielleicht knöchelhoch. Als hätte jemand die Wellenmaschine abgeschaltet.

Nach der Session wollte Ricardo uns noch seine neueste Errungenschaft zeigen: eine kleine alte Mühle direkt am Spot, die die Jungs samt Grundstück von der Gemeinde bekommen haben. Denn das „Gasoline Project“ ist nicht nur eine Gruppe Freunde, die zusammen surfen, nein, Ricardo hat vor gut einem Jahr eine Foundation gegründet, die sich zur Aufgabe gemacht hat, sich um Waisenkinder und Schüler aus armen Familien in ihrem Ort zu kümmern. Da das kleine Städtchen sehr perspektivlos, voll von Gangs und Drogendealern ist, wollen die Jungs den Kindern aus diesem Viertel mit Freizeitaktivitäten ein wenig Perspektive verschaffen. „2013 gründete ich das ,Gasoline Project‘.

Wir arbeiten mit den Kindern hier aus der Gegend, die es sozial nicht immer einfach haben. Im Schnitt sind die Kinder zwischen zehn und 16 Jahre alt und stammen aus den Schulen aus der Umgebung. Mit dem Projekt versuchen wir, ihnen sportliche Alternativen zu ihrem sonst tristen Alltag zu schaffen. Mit Surfen im Fluss wollen wir sie auf andere Gedanken bringen und sie auf die Wellen im Ozean vorbereiten“, erzählt Ricardo. So haben sie beispielsweise am Hauptplatz ihres Orts eine große Miniramp gebaut und alte Schaumstoffbretter besorgt, mit denen sie den Kids an ihrer Welle das Surfen beibringen. Und nun haben sie als eine Art Treffpunkt eine kleine alte Mühle, die sie gerade ausbauen.

Ich kann euch sagen, die Gegend, in der die Jungs wohnen, ist wirklich alles andere als anziehend und hat definitiv einige Ecken, in die ich mich allein nicht trauen würde. Wir machten nach unserer Session einen kleinen Spaziergang durchs Viertel, weil Ricardo uns ein wenig seine Hood zeigen wollte. Bei dieser Gelegenheit wurde unser Fotograf gleich mal mit dem Messer bedroht, als er in einer der Straßen ein Foto machen wollte. Man muss sagen, ich habe selten so schöne Gebäude und so viel gute Street Art gesehen. Doch ebenso war ich noch nicht oft in solch zwielichtigen Gegenden wie in diesem Viertel. So ghettolike und rough das Städtchen aber auch ist, so unglaublich schön ist die ganze Szenerie an dem Spot, wo die „Gasoline“-Welle bricht. Ich denke, viele von uns würden alles geben für eine kleine Mühle an einem derart wunderschönen Plätzchen mit einer der perfektesten kleinen Wellen vor der Tür.

Ich werde die Jungs auf jeden Fall besuchen, so oft ich es kann, und auch versuchen, sie mit ihrer Foundation zu unterstützen: ein Stück Paradies mitten in der harten Welt des Lissabonner Vorstadt-Ghettos.

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