Heute ist die 33-jährige Sarah Gerhardt verheiratet, hat zwei Kinder und einen Doktortitel in Physikalischer Chemie. Das klingt nach gutbürgerlichem Leben. Doch schiesst Frau Dr. Gerhardt nicht gerade Laser-Strahlen in Femtosekunden (eine Femtosekunde ist im Verhältnis zu einer Sekunde wie eine Sekunde zu 32,6 Millionen Jahren) durch ihr Labor an der Uni von Santa Cruz, stürzt sie sich nach wie vor mit ungebremstem Willen, so oft es ihre Kinder zulassen, in die eisigen Brecher Mavericks.
Warum sie das macht, hat einen Grund. Aufgewachsen an der Central Coast Kaliforniens stand Sarah das erste Mal mit 13 Jahren auf dem Surfboard und verliebte sich sofort in den Thrill. Nachdem die Eltern ihrem Betteln erlagen und ihr von dem wenigen Geld, das der Familie zur Verfügung stand, das nötige Surf-Equipment gekauft hatten, war sie jede freie Minute auf dem Wasser zu finden. Jedoch waren diese Minuten schon in Sarahs Kindheit rar gesät, denn ihre Aufgaben im Haushalt bestanden nicht wie bei den meisten von uns nur aus ab und zu mal Abwaschen, sondern zudem kümmerte sie sich um ihre schwer kranke Mutter. Die Mutter sass mit Muskelschwund im Rollstuhl, der Vater fuhr zur See und war selten zu Hause. Das Geld reichte nicht für ambulante Pflege. Für Sarah eine Zeit, in der sich ihre Einstellung zum Leben drastisch ändern sollte. Die Belastung trieb sie weiter zum Surfen. Auf dem offenen Meer fand sie Freiheit und in den Wellen die eigentliche Herausforderung im Leben.
Eine Herausforderung, die sie an einem kalten Morgen im Februar 1999 mit ihrem Brett unter dem Arm und in dickes Neopren eingepackt dazu brachte, die Welle ihres Lebens zu surfen. Heute ist sie mit Big-Wave-Surfer Mike Gerhardt verheiratet und brachte vor ein paar Monaten ihren Film „One Winter Story“ raus. Ein Film, der inspirierend über ihr Leben berichtet. So inspirierend, dass wir uns mit ihr zum Interview treffen mussten.
Surfers: Hallo Sarah, du bist die erste Frau, die Mavericks surfte. Was war es für ein Gefühl, als du im Februar 1999 zum ersten Mal im Line-up von Mavericks sasst?
Sarah: Ich war von der Schönheit und der Geräuschkulisse dies Ortes völlig überwältigt. Ich hatte über ein Jahr lang darüber nachgedacht, hier surfen zu gehen. Plötzlich so nah an den Wellen zu sitzen war so beeindruckend, dass mir im ersten Moment die „Eier“ fehlten, um eine der Wellen anzupaddeln.
Und wie waren die Reaktionen der Jungs im Line-up?
Sie waren zwar nett, doch das grosse Fragezeichen über ihren Köpfen war deutlich zu erkennen. Sie fragten sich schon, was ich hier draussen machen wollte. Es half, dass ich mit meinem Mann Mike und unserem damaligen Freund Jay Moriarty zusammen im Line-up ankam.
Was treibt dich an, solch grosse, dunkle, eisig kalte Wellen in haiverseuchtem Wasser zu surfen?
Was mich antreibt, ist das Gleiche, was andere Menschen dazu bringt, extreme Berge zu erklimmen. Es geht darum, unvergessliche Erfahrungen in den extremsten Naturbedingungen zu sammeln. Es macht Spass, ist herausfordernd und zeigt mir immer wieder, wie weit ich persönlich gehen kann.
Du hast mal in einem Interview gesagt: „Die meisten Leute, die Mavericks surfen, hatten bereits Todesnäheerfahrungen. Ich habe keine Angst vor dem Sterben, obwohl es schade wäre.“ Erzähl uns von deinem schlimmsten Erlebnis in Mavericks.
Fast jeder Wipe-out und Hold-down da draussen bringt einen an die Grenzen des Machbaren. Ein Wipe-out fühlt sich an, als würden dir alle Gliedmassen gleichzeitig vom Körper gerissen werden. Schon einige Male sah ich wegen Sauerstoffmangels Sterne vor Augen. Ich habe nicht vor, da draussen zu sterben, aber ich weiss, dass es passieren kann, und ich habe keine Angst davor. Ich gehe ein kalkuliertes Risiko ein und hoffe vor jeder Session, noch einen weiteren Tag surfen gehen zu können.
Aber wieso hast du keine Angst vor dem Sterben?
Ich glaube zwar, dass der Tod das Ende für das Leben bedeutet, das ich hier auf Erden kennengelernt habe, aber ich glaube nicht, dass der Tod das Ende für die Seele bedeutet.
Und was, glaubst du, kommt nach dem Tode?
Ich erwarte, dass ich von allen mentalen und physischen Hindernissen befreit werde.
Du bist sehr gläubig, richtig?
Der Glaube gibt dir die Grundlage zum Hoffen. Es wäre leicht, die Hoffnung zu verlieren, wenn man sich umschaut, in welchen Zeiten wir uns befinden zwischen all den Kriegen und dem Leiden, das auf der Welt herrscht. Der Glaube gibt mir die Hoffnung, dass eines Tages Frieden in meinem Herzen und in der Welt um mich herum herrschen kann. Der Glaube gibt mir die Kraft, meinen Ziele zu folgen, auch wenn sie manchmal unmöglich zu erreichen scheinen – wie zum Beispiel Mavericks zu surfen.
Magst du uns von deiner Jugend und deinen Eltern erzählen? Du hast viel Zeit damit verbracht, dich um deine kranke Mutter zu kümmern, richtig?
Meine Mutter litt unter Muskelschwund, die Krankheit fesselte sie schon früh an den Rollstuhl. Mein Vater war bei der Handelsmarine, was bedeutete, dass er die meiste Zeit des Jahres auf hoher See war anstatt zu Hause. Also kümmerten sich meine fünf Jahre ältere Schwester und ich uns um unsere Mom. Sie brauchte Rundumbetreuung. Doch trotz ihrer Behinderung war sie immer bereit, anderen Menschen etwas Gutes zu tun. Sie war ein guter Mensch. 1996 starb sie. Durch ihren ungebrochenen Willen, immer auch für andere Menschen da zu sein, wird sie für mich immer mein grösstes Vorbild bleiben.
Hat dich diese Zeit geprägt?
Die Zeit, in der ich mich um meine Mom gekümmert habe, hat mich früh selbstständig gemacht. Es hat mir gezeigt, dass man die vermeintlich persönlichen Grenzen noch weit überschreiten kann. Sie hat mich inspiriert, Träume nicht nur zu haben, sondern sie auch in die Realität umzusetzen. Das ist der Grund, warum ich meinen Traum, Mavericks zu surfen, umsetzen konnte und warum ich meinen Abschluss als Doktor in Physikalischer Chemie geschafft habe.
Wie hast du eigentlich deinen Mann Mike kennengelernt?
Ich habe Mike beim Surfen an der North Shore von Oahu kennengelernt. Wir hatten denselben Big-Wave-Mentor, Ken Bradshaw. Wir surften zusammen Sunset Beach, Waimea und verschiedene Outer Reefs. Mike war bei jedem meiner ersten Big-Wave-Abenteuer dabei. Drei Jahre später heirateten wir bei Sonnenaufgang an dem Strand, an dem wir die ersten grossen Wellen zusammen gesurft hatten.
Du bist inzwischen Mutter von zwei Kindern. Hat das etwas an deiner Risikobereitschaft beim Surfen von Mavericks geändert?
Es hat etwas geändert: Ich habe jetzt weniger Zeit. Meine Risikobereitschaft ist dieselbe geblieben. Mike und ich wechseln uns jetzt immer beim Surfen ab. Seit Noah [ihr dreijähriger Sohn] geboren ist, konnten wir erst zweimal zusammen Mav surfen gehen. Ich würde immer noch alles dafür geben, Mavericks zu surfen. Aber jetzt opfere ich das Surfen nicht für meine Mom, sondern für meine Kinder.
Da du gerade von Opfern sprichst: Jetzt, da du selber Kinder hast, hat das etwas daran geändert, wie du selbst über deine Kindheit und deine Mutter gedacht hast?
Selbst Kinder zu haben hat den Respekt gegenüber meiner Mutter noch mal vervielfacht. Ich wundere mich jeden Tag, wie sie das alles geschafft hat. Ich hoffe, all die Liebe und Wärme, die ich von ihr bekommen habe, an meine Kinder weitergeben zu können.
Kommen wir zu deinem aktuellen Film „One Winter Story“: Wer hatte die Idee dazu?
Das war meine Freundin Sally Lundburg. Sie rief mich an und fragte, ob ich Teil eines Kurzfilmprojekts über Frauensurfen sein wollte. Ich sagte: „Ja, klar!“ Statt des Parts filmten wir dann „One Winter Story“.
Hast du es schon jemals bereut, mit dem Film einen solch persönlichen Einblick in dein Leben gegeben zu haben?
Den Film überhaupt zu drehen war für mich schon eine sehr herausfordernde Sache. Ich wurde plötzlich mit vielen vergessenen und verdrängten Momenten aus meiner Kindheit konfrontiert.
Wie lange habt ihr an dem Film gesessen?
Allein der Dreh dauerte über zwei Jahre. Die Interviews und die Bearbeitung dauerten noch mal drei Jahre. Mein Grund für all die Mühen war, Menschen zu inspirieren und ihnen zu zeigen, dass man alle Hindernisse im Leben meistern und dabei immer das Gute im Herzen bewahren kann. Ausserdem gab mir der Film eine gute Gelegenheit, das Erlebte zu verarbeiten.
Wie war das Feedback, nachdem der Film veröffentlicht wurde?
Die meisten Leute haben den Film sehr genossen. Sie mochten, wie er gefilmt, geschnitten und musikalisch unterlegt wurde. Sally und Liz sind grosse Künstler. Viele Leute haben mir gesagt, dass bestimmte Parts sie inspiriert oder für bestimmte Situationen im Leben ermutigt hätten, zum Beispiel im Umgang mit einem Todesfall in der Familie. Was mich auch berührt hat, waren die vielen jungen Mädels, die mit funkelnden Augen zu mir kamen und mir über das erzählt haben, was sie lieben und was sie im Leben erreichen wollen.
Glaubst du, dass Big-Wave-Surfer anders ticken, als „normale“ Surfer?
Nicht wirklich. Alle Surfer sind mit dem Wasser verbunden, nur die einen suchen stärker nach dem Thrill als die anderen.
Warum, glaubst du, gibt es kaum weibliche Big-Wave -Surfer?
Es gibt insgesamt nur sehr wenige Big-Wave-Surfer auf der Welt. Die Angst hält die Anzahl an Big-Wave-Surfern klein, egal ob Männer oder Frauen. Wenn die Zahl an weiblichen Surfern weiter steigt, wird es bald aber auch mehr weibliche Big-Wave-Surfer geben.
Was würdest du Frauen ans Herz legen, wenn sie mit Big-Wave-Surfen beginnen wollen?
Ich würde ihnen raten, so viel Zeit wie möglich auf dem Wasser zu verbringen. Egal ob über dem Wasser beim Surfen oder unter dem Wasser beim Tauchen oder Atemtraining. Und man sollte sich auf möglichst vielen verschiedenen Typen von Surfboards wohl fühlen, insbesondere auf Big-Wave-Guns!
Und wie lange willst du selbst Mavericks noch surfen?
Natürlich so lange wie möglich. Im Idealfall mit meinen Kindern. Noah ist momentan total vernarrt in Schaufeln und Trucks. Naomi ist 17 Monate alt und schon gerne im Wasser. Mike nahm sie letzten Monat mit zum Tandem-Surfen und sie hat es geliebt. Es sieht so aus, als hätten wir schon mal mindestens einen Surfer unter den Kindern. [lacht] Die meisten Leute haben den Film sehr genossen. Sie mochten, wie er gefilmt, geschnitten und musikalisch unterlegt wurde. Sally und Liz sind grosse Künstler. Viele Leute haben mir gesagt, dass bestimmte Parts sie inspiriert oder für bestimmte Situationen im Leben ermutigt hätten, zum Beispiel im Umgang mit einem Todesfall in der Familie. Was mich auch berührt hat, waren die vielen jungen Mädels, die mit funkelnden Augen zu mir kamen und mir über das erzählt haben, was sie lieben und was sie im Leben erreichen wollen.
Glaubst du, dass Big-Wave-Surfer anders ticken, als „normale“ Surfer?
Nicht wirklich. Alle Surfer sind mit dem Wasser verbunden, nur die einen suchen stärker nach dem Thrill als die anderen.
Warum, glaubst du, gibt es kaum weibliche Big-Wave -Surfer?
Es gibt insgesamt nur sehr wenige Big-Wave-Surfer auf der Welt. Die Angst hält die Anzahl an Big-Wave-Surfern klein, egal ob Männer oder Frauen. Wenn die Zahl an weiblichen Surfern weiter steigt, wird es bald aber auch mehr weibliche Big-Wave-Surfer geben.
Ihr Film „One Winter Story“ ist erhältlich unter www.bdworld.de
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