Vier Amis auf Surf-Mission in Russland? „Das nicht gut“, meinte zumindest die Zollbeamtin am Flughafen Wladiwostok. Doch unsere amerikanische Edelfeder Michael Kew liess sich von solchen Kommentaren nicht abschrecken und testete Mütterchen Russland auf ihre Surf-Tauglichkeit. Mit im Gepäck: die Pros Josh Mulcoy, Mike Losness und irgendwann dann auch Fotograf Chris Burkard…
„Njet!“ Die fette, kraushaarige Tante am Schalter des Flughafens Wladiwostok rümpfte ihre Nase und starrte uns an, während sie den geöffneten Reisepass unseres Fotografen Chris Burkard auf Augenhöhe brachte. „Das nicht gut!“, fauchte sie. Ein langer roter Fingernagel zeigte dabei auf das „Gültig ab“-Datum auf seinem Russland-Visum. Allem Anschein nach hatten die Behörden in Amerika ein falsches Ankunftsdatum ausgestellt.
Das bedeutete in der Praxis, dass er für die kommenden zwei Tage keinen Fuss in die Russische Föderation setzen dürfte. Burkard hätte also den nächsten Flieger zurück nach Seoul in Südkorea nehmen müssen, stattdessen versuchte er nun völlig sinnlos, mit der Zollbeamtin zu diskutieren, um seiner Abschiebung entgegenzuwirken. Vergebens, wurde Burkard klar, als einer der Flughafenmitarbeiter unvermittelt zu ihm sagte: „Nun Zeit zu gehen!“ Die Tür ging auf und er wurde von drei bewaffneten Polizisten nach draussen geleitet.
Der regnerische Himmel war in ein tief dunkles Grau getaucht, Silhouetten von Industrieschornsteinen stiessen braunen Qualm aus und am Horizont waren Primorjes Gebirgszüge zu sehen. Die Luft war kühl und feucht und der Wind kam mit starken Böen aus Südost – Burkard wusste, dass dies ein Wind war, der Wellen macht.
„Das grosses Problem für dich“, sagte einer der Flughafenpolizisten, als sie den tapferen Amerikanski unsanft in eine kleine Arrestzelle steckten. Die Zelle war ein umgebautes Hotelzimmer, in dem es muffig roch. Die Türklinke war von innen abmontiert und fünf Türschlösser verhinderten jegliches Entkommen. Die Zellentoilette war das Grauen, das man erwartet, wenn man in Russland in eine Zelle gesperrt wird.
Die unansehnliche Keramik leckte wie verrückt und weichte den Zementboden auf. Das Glas in dem Fenster war gesprungen und mit dicken Gitterstäben verriegelt, die Bettlaken waren dreckig und stanken. Acht Stunden vergingen. Um ein Uhr morgens öffnete eine Wache die Tür und machte eine Schaufelbewegung in Richtung Mund: „Eda?“ („Essen?“) – „Da“, gab Burkard sofort zurück. Er hatte zu Hause ein paar russische Wörter gelernt und wusste, dass „ja“ auf Russisch „da“ heisst.
Die vergangenen acht Stunden hatte er damit zugebracht, für rund 2.000 US-Dollar mit seinem Mobiltelefon abwechselnd mit der US-Botschaft, mit Korean Airlines und seiner Frau, die krank vor Sorge in Kalifornien sass, zu telefonieren. Wenigstens würden sie ihm etwas zu essen geben, dachte er leicht verzweifelt, als die Wache einen Teller mit etwas Lauwarmem, komisch Riechendem drauf in die Zelle schob. Das Etwas auf dem Teller war Soljanka, die Burkard auf einem kleinen Stahltisch direkt neben der Ekel erregenden Toilette ass.
Draussen regnete es immer noch. Am Abend durfte Burkard die Zelle verlassen und wurde
in einen Flieger zurück nach Seoul gesetzt, wo er die Nacht am Incheon International Airport verbrachte, um am nächsten Morgen wieder in ein Flugzeug zurück nach Wladiwostok zu steigen. Und als wäre diese ganze Schikane nicht schon Strafe genug genug gewesen, verpasste Burkard den Grossteil der Wellen unseres Trips – das alles dank eines winzigen Tippfehlers bei dem Datum auf seinem Visum…
Besser spät als nie? Njet!
Wladiwostok hat viele Gesichter. Gerade im Spätsommer ist es sonnig, warm, windstill und einladend. Mit rund 600.000 Einwohnern und fast 10.000 Kilometern Entfernung zu Moskau eröffnet sich ein völlig anderes Russland, eine ferne Kultur, die noch bis 1992, bis zum Fall der Sowjetunion, gänzlich vom Tourismus ausgeschlossen war. Auf uns, inmitten dieses neuen Russlands, das sich an den freiheitlichen Reformen Perestroika und Glasnost des Ex-Sowjetpräsidenten Michail Gorbatschow erfreut, wirkte Wladiwostok im August und September 2009 genauso hell, wohlhabend und blühend wie jede andere Weltstadt.
Dabei ähnelte es mit seinen malerischen Gebäuden, den Graffiti, dem Motorradlärm, den quirligen Menschenmassen, den hupenden Autos, den steil abschüssigen Strassen, den heulende Autoalarmanlagen, dem Kreischen der Möwen, der Vogelscheisse, der Techno-Musik, den grünen Parks, den vielen Statuen, den Bergen und den Häfen, den Containerschiffen und der Marineflotte, dem kalten Nebel und den Salzwasserküsten erschreckend Kaliforniens San Francisco. Liegt Wladiwostok geografisch doch im Fernen Osten an der Grenze zu China nahe Japan und Nordkorea, findet man dort nur wenige asiatische Einflüsse.
Obwohl die Küstenabschnitte gerade einmal eine Hand voll Tage im Jahr Swell abbekommen, ist Wladiwostok eine dieser Städte, in der man sich schnell verlieren kann. Global gesehen ist Russlands ferner Osten wohl mit Abstand eine der schwierigsten Regionen, um gute Wellen zu finden, und man kann von Glück sprechen, dass wir überhaupt nass wurden. An unseren ersten beiden Tagen (ohne Burkard) wurden wir mit sagenhaften Verhältnissen verwöhnt. Nördlich von Wladiwostok liegt die alte Küste des russischen Verwaltungsbezirks Primorje. „Primorje“ bedeutet „am Meer gelegen“, spiegelt das maritime Russland wider und ist wunderschön in seinen Gegensätzen.
Inmitten der grossen Felsformationen, die sich aus dichten Wäldern erheben, sind Wellen das Letzte, was man vermuten würde. Bahnt man sich aber seinen Weg durch das Grün, erwarten einen weisse Sandstrände, feine Reef Breaks, Point Breaks, einige der krassesten Slabs und zuckersüsse Beach Breaks – zwar selten, dann aber paradiesisch! Einer dieser Breaks pumpte den einen Abend kräftig und produzierte mit dem ablandigen Wind feinste Offshore-Peaks. Wir hatten eigentlich nur gestoppt, um dort zu Abend zu essen. Als wir aus dem Auto stiegen, war an Surfen noch nicht zu denken, doch innerhalb von 20 Minuten wandelte sich der Onshore-Mush in knackigen, kopfhohen Spass! Es war ein flüchtiger Eindruck von Russland, wie es wellentechnisch sein kann, doch leider nur sehr selten ist.
An unserem dritten Tag, endlich mit Burkard in Schlepptau, sassen Kaliforniens Josh Mulcoy und Mike Losness am Ende einer kleinen Schotterpiste und studierten die blaue See. Doch es gab nichts zu sehen. Direkt hinter Japan gelegen bot Primorje keinerlei Chance mehr auf Groundswell.
Dabei sah alles so gut für uns aus: Japans Ostküste versank in Wellen, es war windig und pumpte wie verrückt. Das Internet versprach Taifun-Swells, Stürme aus Südost, Regen und dazu Wellen mit zwei Metern und mehr. In Russland sorgte dies aber für das schönste Urlaubswetter – das Meer blieb lake-flat. Am Strand waren es 30 °C, Frauen badeten oben ohne in Tangas, Barbecues an jeder Ecke, Kinder tobten hin und her, die Boote lagen ruhig da und kaltes Bier gab es für einen Dollar am Strandkiosk. Wir machten das Beste daraus, sonnten uns und tranken Bier, machten Party mit Andrej und den Boys von der Windsurfschule im Süden der Insel Russki.
Eines Morgens fuhren wir weit in den Norden an einen Spot mit exzellentem Swell und super Windverhältnissen. „Da sind keine Wellen im Zee Forecast“, sagte Valera, unser Fahrer und Wladiwostoks erster Surfer, noch zu uns. Als wir nach sechs Stunden Fahrt auf einer Schotterpiste endlich die wellenlose, aber malerische Bucht erreichten, gluckste er gelassen: „Das sein schlecht.“ Wir sollten bald feststellen, dass Valera seine Spots genau kannte und wusste, wo wann was lief. An vielen Tagen sind wir losgefahren und wollten ihm nie glauben, bis unser Optimismus von der flachen Realität zerstört wurde. Der ersehnte Taifun ist nie gekommen. Leichte Sommerbrisen und eine kochende Sonne – wenn es im Osten flat ist, ist es f-l-a-t.
Die Surf-Pros Warren Smith, C.J. Kanuha und Sam Hammer kamen später an und streiften noch nicht einmal ihre Neos über. Stattdessen schlugen wir die Zeit in Wladiwostok tot, wo wir uns in Seen von billigem Wodka, Zigaretten, Wasserpfeifen, Nachtclubs, neuen Freunden und den schönsten Frauen der Welt verloren. „Lass uns einen Wodka trinken!“, wurde zu unserer Hymne, die Zeit verzerrte sich und wir erfuhren die wahre Seele der Stadt, auch wenn dies den verpassten Surf nicht wirklich vergessen machen konnte. Besonders Burkard war erschüttert. Er war den ganzen Weg ins Russlands fernen Osten geflogen, ertrug Haft und Abschiebung, war sowohl emotional als auch finanziell total erschöpft und musste mit uns ansehen, wie sich ein ganzes Jahr Planung im sonnigen sibirischen Himmel in Luft auflöste. Russland war wirklich ein hartes Fleckchen Erde – riesig, stoisch, unberechenbar. Die Taifun-Saison war früh zu Ende gegangen, Japan hatte seine Tore geschlossen. Wir gaben auf – the Soviet surf trip was done.
Photos: Chris Burkard, Michael Kew
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