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TRAVEL STORIES SUMBAWA

Travel Stories

TRAVEL STORIES – Sumbawa – Zwischen Weißwasser und Wirklichkeit

Erzähl uns deine Geschichte!

Ob epischer Roadtrip entlang abgelegener Küsten, der perfekte Wellen-Tag in deinem Lieblings-Spot oder unerwartete Begegnungen auf dem Weg – wir freuen uns immer über persönliche Geschichten aus der Welt des Surfens, Reisens und Draußen-Seins. Unsere Community lebt von echten Erfahrungen, und genau dafür sind unsere Gastbeiträge und Travel Stories da.

Du hast etwas zu erzählen? Dann schick uns deine Story – wir sind gespannt!

Hier eine Geschichte von Melanie Burk, die beim ihrem letzten Trip in Lakey Peak war und uns folgende Story mitgebracht hat:

Es ist früh morgens, als ich aus dem Fenster meines Appartements in einen gepflegten Garten schaue, umgeben von einer grünen, aber eher tristen Landschaft. Nur wenig Sonne kommt durch die Wolken, welche heute den Himmel über Lakey Peak bedecken.

Lakey Peak liegt im südöstlichen Teil der indonesischen Insel Sumbawa – ein Spot, der nicht zufällig angesteuert wird, wo grüne Hügel auf das Meer treffen und die Straßen eher Versprechen als Wegweiser sind. Der Weg hierher ist kein einfacher – mehrere Flüge, ein staubiger, stundenlanger Ride durch die tropische Hitze und Dörfer, in denen Zeit keine Rolle spielt.

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Die Entstehung von Lakey Peak

Seinen Namen verdankt Lakey Peak dem australischen Surfer Dave „Lakey“ Lake, der in den 80ern blieb, als alle anderen weiterzogen. Die A-Frame-Welle, die direkt vor dem Dorf bricht, ist formschön, kraftvoll und scheinbar unermüdlich – man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass es ihr Rhythmus ist, der das Ticken der Uhren leiser werden lässt.

Erste Wellen, erste Zweifel

Mein Nacken schmerzt etwas von der Lippe der beschriebenen Welle, die mir vor zwei Tagen ins Genick gebrochen ist: Nur ganz knapp hatte ich die Barrel verpasst, die sich seitlich neben mir aufgebaut hatte und zu der mir anfangs schon die Kinder im Wasser zugejubelt hatten. In diesem Moment: BATSCH! – Mit voller Wucht hatte sie mich mit einem gezielten Schlag ins Genick getroffen.

Auch heute soll es wieder groß werden, hieß es im Forecast. Das hat meinen Schlaf nicht unbedingt ruhiger gemacht. Ich schnappe mir mein Board, welches schon stark in Mitleidenschaft gezogen ist – befestige es an der Seite meines Rollers und fahre los. Den Roller muss ich immer etwas anschieben zum Starten. Auch die Lenkung wurde allem Anschein nach nachträglich ersetzt. Aber immerhin: Die Bremsen funktionieren einwandfrei und er fährt mich von A nach B, ohne größere Probleme zu machen. Die Reifen sind etwas abgefahren. Solche mechanischen Eigenheiten im Fahrverhalten zu berücksichtigen gehört mittlerweile zu meinen Spezialgebieten.

Auf dem Weg zum Peak ruft mir unser Nachtwächter noch mit einem verschmitzten, leicht unsicheren Lächeln „Hati, Hati“ zu, was in diesem Zusammenhang so viel wie „Fahr vorsichtig, mach langsam, gib acht“ bedeutet. Jugendliche mit Surfboards auf ihrem Surfrack fahren mir entgegen. Eine große Schlange liegt auf der Straße – tot. Der Kopf wohl durch eines der Fahrzeuge in der allnächtlichen Dunkelheit abgetrennt. Womöglich einer der Laster, welche die Straße zur Mine nehmen. Meist schwer und sporadisch gesichert, beladen.

Weitere Kinder kommen mir entgegen, lächeln freundlich und winken mir zu. Die meisten tragen etwas abgetragene, zu weite Kleidung, überzogen von einer staubigen Schicht. Sie halten ihre jüngeren Geschwister an den Händen. Die Haare sporadisch zusammengebunden und spärlich gekämmt. Manche von ihnen treiben Kühe oder Ziegen vor sich her.

Am Peak angekommen, hinterlege ich meinen Schlüssel in einem der wenigen Cafés, die es hier zu finden gibt. Ein paar Surfer sitzen schon mit Aussicht auf den Peak hinterm Tresen. Alle begutachten die Welle. Geredet wird wenig. Die Aufmerksamkeit wird vielmehr für den Spotcheck gebraucht. Um ein inneres Gespür dafür zu bekommen, ob man den heutigen Bedingungen gewachsen ist. Meine innere Stimme weiß schon nach einem Blick auf das eintreffende Set, dass ich es heute ohne meinen Surflehrer wohl eher nicht bin. Mein Körper zieht sich zusammen – Angst macht sich breit. Ich frage mich wieder einmal: Ist diese Leidenschaft es wirklich wert? Eine Frage, die mich schon oft beschäftigt hat.

„Tu jeden Tag eine Sache, die dir Angst macht.“

– soll Eleanor Roosevelt einmal gesagt haben. Nun, liebe Eleanor – hier bin ich. Das ist wohl Antwort genug.

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Firman und der Ozean

Mein Lehrer Firman wartet schon im Line-up auf mich. Seine jahrelange Erfahrung ist an solchen Tagen Gold wert. Firman ist der beste Surfcoach, den ich je hatte. Einer, der nicht viel sagt, aber genau weiß, wann es zählt. Meistens ruhig, fast zurückhaltend. Kein großer Erzähler, keiner, der ständig einen Spruch auf den Lippen hat. Aber wenn’s drauf ankommt – wenn ich zögere, wenn die Welle anrollt – dann wird er laut. Dann brüllt er quer übers Line-Up, mit einer Stimme, die plötzlich alles durchschneidet. Direkt. Ohne Diskussion.

Er ist hier aufgewachsen, kennt jede Bewegung, jede Stimmung des Meeres. Ein paar Jahre war er auf Bali, hat dort unterrichtet. Jetzt ist er wieder hier, zurück am Peak. Und er ist der Einzige, den ich kenne, der sich zutraut, mich in solche Bedingungen mitzunehmen. Der nicht nur mutig genug ist – sondern ruhig genug. Klar genug. Der mir das Gefühl gibt, dass er alles im Griff hat. Vielleicht liegt das an diesem Gespür, das er hat. Für den Ozean. Für die Pausen zwischen den Sets. Diese Perioden, in denen das Meer kurz durchatmet. Manchmal denke ich, sein eigener Herzschlag ist längst mit diesem Rhythmus synchron. Als hätte er sich angepasst. Still geworden zwischen den Wellen. Vielleicht redet er deshalb auch so wenig. Weil er zuhört. Weil er genau hinhört, was das Meer ihm sagt. Und wahrscheinlich ist das auch spannender als das, was ich ihm da draußen manchmal zu erzählen versuche.

Mit Selbstzweifeln in der Brust gehe ich die ersten Schritte ins Wasser. Ich balanciere über das glitschige Riff und versuche, den unebenen, scharfkantigen Meeresboden nicht mit der Ferse zu berühren – sie schmerzt seit Tagen. Ein anderer Surfer hatte mich nach meinem Wipeout übersehen – die grelle Morgensonne hatte ihn geblendet. Mit der Finne seines Boards traf er meinen Fuß. Was ich zuerst für eine harmlose Blessur hielt, entpuppte sich als klaffende Wunde, so groß wie eine Münze. Eigentlich sollte ich gar nicht ins Wasser – eigentlich. Aber meine Zeit hier ist begrenzt und diese Barrel, die ich gestern knapp verpasst habe, lässt mir keine Ruhe.

Eine Barrel zu stehen – in meinem Surflevel – wäre ein echtes Highlight. Zumal ich hier eher zu den schwächeren Surfern gehöre. Sobald das Wasser tief genug ist, lege ich mich auf mein Brett und beginne zu paddeln. Ich könnte mich auch für umgerechnet 2,50 Euro mit einem der kleinen Boote ins Line-up bringen lassen – aber ich spare mir das Geld. Lieber nutze ich das Paddeln als Warm-up.

Schwabensport.

Der Peak ist heute voll – 15, vielleicht 20 Leute im Wasser. Eine Menge für diesen Surfspot. Die Stimmung ist konzentriert, aber freundlich. Alle blicken hinaus aufs offene Meer, gespannt auf das nächste Set. Jeder hofft auf die Welle – oder erkennt rechtzeitig, wenn es Zeit ist, weiter rauszupaddeln. Denn niemand will von einer „Big Momma“ erwischt werden, wie die Locals sie nennen. Zu groß das Risiko, von der Wucht der brechenden Welle durchs Weißwasser Richtung des scharfkantigen Riffs, Richtung Türme gezogen zu werden. Die Geschichten, welche die Narben an den Füßen mancher Surfer hier erzählen könnten, würden Bände füllen.

Die Türme stehen schief im Wasser, einst errichtet für Preisrichter bei Contests. Nur noch zwei mutige Fotografen trauen sich hinauf, um Bilder zu machen, die sie später den Surfern verkaufen. Eine Treppe oder Leiter gibt es schon lange nicht mehr – es braucht Mut und Geschick, um da hochzukommen. Auch heute sind wieder viele Kinder im Wasser – meistens Jungs. Ihre Badehosen sind oft viel zu groß, ihre Körper dünn wie Streichhölzer. Oder besser: Treibholz. Sie lachen, schreien, nehmen eine Big Momma nach der anderen. Oft drehen sie im letzten Moment noch flink das Board, paddeln zwei, drei Züge und droppen dann mit dem Brett in die sich auftürmende, brechende blaue Walze. Keiner scheint sich Gedanken zu machen, wie gefährlich diese Bedingungen für so kleine Körper werden können.

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Der Moment der Entscheidung

Firman ruft mir Befehle zu:
„Deeper! Deeper!“
„Paddle harder! Harder!“
„Turn left!!!“

Er ist sichtlich genervt, als ich mein Board im letzten Moment doch noch zurückziehe. Der Blick nach unten, den ich eigentlich vermeiden soll, lässt meine Zweifel wachsen. Doch genau das braucht es jetzt am wenigsten. Die steile Wand hinter mir fordert keinen sanften Einstieg, sondern den entschlossenen Sprung mitten hinein.

„Commitment!“

, schreit er immer wieder. Und es scheint zu wirken. Ich bekomme zwei, drei lange linke Wellen. Mit klopfendem Herzen paddle ich jedes Mal lächelnd zurück ins Line-up. Mein Lehrer nickt mir zufrieden zu, fragt, wie es war. Ich antworte frech: „Good, because you know – commitment.“

Trotz allem Schmerz und aller Angst tanzt mir der Schalk übers Gesicht. Vom Weißwasser lasse ich mich nach bestandener Session wieder in Richtung Strand treiben. Meine Schultern sind erschöpft, das Weißwasser eine günstige Transportmöglichkeit zurück an Land. Am Strand angekommen, dusche ich kurz im Gartenbereich eines angrenzenden Hotels. Während das Wasser über meinen Nacken läuft, frage ich mich, wer außer Surfern eigentlich an einen Ort wie diesen kommt.

Sehenswürdigkeiten, wie sie in klassischen Reiseführern aufgelistet werden, sucht man hier vergeblich. Selbst Postkartenstrände, wie man sie aus Hochglanzbroschüren kennt, gibt es hier nicht. Ich bezweifle, dass dieser Ort überhaupt je in einem Pauschalreise-Guide Erwähnung fand. Besser so. Je weniger Menschen im Wasser, desto größer die Chance, selbst eine Welle zu erwischen.

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Zurück im Café, in dem ich meinen Schlüssel hinterlegt habe, bestelle ich einen Cappuccino.
„Normal milk, hot“, füge ich noch hinzu. An der Theke klebt ein Schild: „Banana-Carrot-Bread“.
Das Schild ist allerdings das Einzige, was dort seit Wochen die Ladentheke füllt.

Draußen ertönt eine mir vertraute Stimme: „Donut, Donut!“.
Jeden Tag läuft sie ihre Runden entlang der in die Jahre gekommenen Strandpromenade. Dort, wo die Steintreppe abgebrochen im Sand liegt, bekommt man wohl den besten Eindruck vom Verfall jener Außenarchitektur. Fast täglich kaufe ich der Donutverkäuferin ein Stück Bananenkuchen ab.
Umgerechnet 30 Cent will die ältere Dame mit Kopftuch dafür. Sie packt mir den Kuchen aus ihrem grell-orangen Plastikkorb in eine durchsichtige Plastiktüte und überreicht ihn mir mit einem breiten Grinsen. Dabei fällt mir auf, dass sie dem Gesicht nach noch gar nicht so alt sein kann – höchstens 45. Vielleicht ist es eher die vom Leben gezeichnete Ausstrahlung, die sie älter erscheinen lässt. Das Leben hier scheint kein leichtes zu sein.

In einem der Cafés, das ich häufig am Nachmittag besuche, steht im hinteren Bereich ein Billardtisch. Dort halten sich oft auch einige der Kinder auf, die man sonst im Wasser trifft. Sie spielen Karten, unterhalten sich mit den Touristen, schauen sich gemeinsam die Surffotos der Fotografen an und analysieren sie. Berührungsängste haben sie kaum. Erst gestern habe ich mit zwei Mädchen noch Schere, Stein, Papier gespielt.

„You look like Barbie“

, hatte das jüngere Mädchen zu mir gesagt. Und obwohl ich kaum wie Barbie aussehe, ordne ich diesen Satz einer Fünfjährigen als Kompliment ein.
Die Fünfjährige übersetzt immer wieder für ihre neunjährige Freundin. Diese spricht kaum Englisch – vermutlich, weil das jüngere Kind eine Privatschule auf Bali besucht, während das ältere Mädchen aus einem der umliegenden Dörfer stammt.

 

Gerade als ich meinen Cappuccino austrinke, kommen Samu, ein einheimischer Junge, und Jakob, ein deutscher Surfer, ins Café. Sie erzählen, dass sie zuvor am Surfspot Cobblestone surfen waren.
Samu hatte mich vor einigen Tagen neugierig im Wasser angesprochen. Wo ich denn hier untergekommen sei und wie ich heiße, wollte er wissen. Nach dieser Begegnung hatte mir ein Italiener erzählt, dass Samu ihn öfter gefragt habe, ob er ihm etwas bezahlen könne – fürs Surfen oder fürs Essen. Diesmal zahlt Jakob für ihn das Frühstück.

Ich nutze die Gelegenheit, mit Samu ins Gespräch zu kommen. 14 Jahre sei er alt, sagt er, und habe wohl gerade wegen der Ramadan-Feierlichkeiten Ferien. Das Alter überrascht mich, denn für einen 14-Jährigen ist er sehr schmächtig gebaut – ich hätte ihn höchstens auf elf geschätzt. Mit dem Motorrad sei es zur Schule nicht weit, sagt er. Ob er diese auch regelmäßig besucht, bleibt offen, denn Samu unterbricht abrupt das Gespräch. Er fragt Jakob nach seinem Rollerschlüssel – müsse kurz sein Handy abholen, das er in einem anderen Café liegen gelassen hat.

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Mit einem Augenzwinkern bejaht Jakob: „Aber zurückbringen“, fügt er hinzu und hilft Samu, das Surfbrett vom Roller zu nehmen. Sorgfältig wird ein geeigneter Platz gesucht, um es abzulegen. Kurz darauf düst Samu davon. Ohne Helm, ohne Schuhe.
Mir wurde erzählt, dass einige der Kinder hier im Café auf den Sofas übernachten. Zu Hause in ihren Dörfern seien die Lebensbedingungen um einiges schlechter – am Surfpeak funktioniere die Dorfgemeinschaft immerhin einigermaßen. Wer sich wirklich um sie kümmert, ist mir nicht ganz klar.
Essen bekommen sie oft vom Café oder, wenn Surftouristen, wie heute Jakob, für sie zahlen. Man erzählt mir außerdem, dass die Kinder ganz genau wissen, welche Unterkünfte Mehrbettzimmer anbieten. So kommt es wohl nicht selten vor, dass sie Touristen nach einer Übernachtungsmöglichkeit fragen, wenn bei diesen ein Bett frei bleibt. Das würde auch Samus’ Fragen bei unserem ersten Treffen erklären.
Ein etwas mulmiges Gefühl macht sich in mir breit – allein bei dem Gedanken, dass es sich für ein Kind sicherer anfühlt, bei einem Fremden zu schlafen als zu Hause.

Einer der Jungs kreuzt selbstbewusst meinen Weg: Billy. Dem Stolz in seinem Gang nach zu urteilen, ist dies hier sein Revier. Er ist klein und hat eine breite Nase. Zudem große, weiße Vorderzähne und unheimlich viele glatte Haare, die wie eine Palme in alle Richtungen abstehen. Sein Gesicht wirkt ernst und zugleich frech. Ich kenne ihn – wie auch Samu – aus dem Wasser. Meiner laienhaften Einschätzung nach ist er ein sehr begabter Surfer.
Etwas keck schwingt er sich auf die angrenzende Mauer, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und beginnt ein Gespräch mit meiner Sitznachbarin – ebenfalls Touristin. Einen Sponsor habe er jetzt, erzählt er ihr. Eine indonesische Surfmarke. Ein Traum, den viele der Kinder hier verfolgen. Am liebsten natürlich eine der „Großen“.
‘Rip Curl’, so heißt es, habe hier schon einige einheimische Surfer gesponsert.

Auch sonst erinnern mich die Lebensbedingungen der Kinder hier an das Nimmerland aus J. M. Barries Roman Peter Pan: keine Schule, keine Autoritäten, niemand, der einem Vorschriften macht. Der ganze Tag gehört dem Meer. Zu schön, um wahr zu sein? Eher eine melancholische Version der Geschichte. Vielleicht auch ein nicht ganz freiwillig gewähltes Nimmerland, das mehr Zuflucht als Abenteuer ist.

Während meines Studiums der Sozialen Arbeit hatte ich einmal aufgeschnappt, dass Kinder in schwierigen Lebensumständen die Fähigkeit besitzen, sich durch ihre Kreativität in Fantasiewelten zu retten – als Teil einer Art Überlebensstrategie.
In der Realität starben im Jahr 2008 allein auf dieser Insel in Indonesien 20 Kinder an den Folgen von Mangelernährung. Das ist noch keine zwanzig Jahre her.
Ich frage mich, was ich 2008 gemacht habe. Wahrscheinlich einiges, nicht viel Produktives. Sicherlich habe ich mir keine Gedanken über Hunger machen müssen. Der Bericht, den ich dazu vor ein paar Tagen entdeckte, beschäftigt mich noch immer. Genauso wie die Kinder, die ich hier überall antreffe.
Die Jungs hier erinnern mich an Figuren aus Barries Nimmerland – voller Energie, Widersprüche und jenem kindlichen Trotz, der sich der Welt der Erwachsenen verweigert.

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Die Lost Boys

Für Dicki habe ich sofort jemanden vor Augen – Mano. Er ist der einzige richtig kräftige Junge hier am Peak. Groß, stämmig gebaut, mit einem Auftreten, das in der Gruppe eher schmaler Jungs sofort heraussticht.
Dicki, einer aus der Gruppe der Lost Boys im Roman Peter Pan, ist bekannt für seine gemütliche, aber mutige Art – ein bisschen langsamer als die anderen, aber mit einem großen Herz. Mano passt perfekt in dieses Bild. Er hat nicht nur eine große Klappe, sondern auch Mut. Immer wieder wirft er sich in letzter Sekunde in wuchtige Wellen, die andere lieber vorbeiziehen lassen.

Für Billy: Slightly. In Barries Geschichte ist Slightly ein Junge, der sich selbst gern ein wenig überschätzt und ständig behauptet, sich an Dinge zu erinnern, die nie passiert sind. Ein bisschen zerstreut, ein bisschen übermütig – genau wie Billy und seine Frisur.
Und auch für Firman habe ich jemanden. In der Originalgeschichte ist Tootles der Lost Boy, der am stillsten ist, oft unauffällig, aber voller Herz und Loyalität. Er redet nicht viel – aber wenn er etwas sagt oder tut, dann mit Bedeutung. Später, als er älter wird, wird Tootles zu einem weisen, sanften Mann. Und genau das passt:
Firman ist vielleicht der Tootles, der erwachsen geworden ist – der nicht viele Worte braucht, weil er genau hinhört. Der mit Intuition führt. Einer, der mit dem Meer spricht, nicht über das Meer. Und der genau weiß, wann du bereit bist – manchmal noch bevor du es selbst weißt.

Nur Peter selbst? Den kann ich bisher nicht eindeutig ausmachen. Peter Pan – der Junge, der nie erwachsen werden will. Der Anführer der Lost Boys, mutig, charismatisch, freiheitsliebend, aber auch sprunghaft, stolz und manchmal egozentrisch.

Abends sitze ich im Restaurant. Den Tisch teile ich mit Dedi. Einem älteren Surflehrer mit einem Longsleeve, auf dem Lakey Peak Boys als Schriftzug gedruckt ist, und der stets eine Kapitänsmütze auf hat. Selbst im Wasser. Wie diese sich bei den hier herrschenden Surf-Bedingungen nicht Richtung Meeresweite verabschiedet, bleibt mir bis jetzt ein Rätsel. Er gehört zu den echten Legenden am Peak. Nach anfänglicher Skepsis über diese Beschreibung kann ich diesen Titel aber bestätigen. Denn im Unterschied zu Fußballern halten sich Surfer eher zurück mit Geschichten, wie knapp ihnen nur die Profikarriere entgangen ist. Auch Dedi hatte sich mir selbst nicht als Legende vorgestellt. Die Frauen, welche mit uns am Tisch sitzen, hatten es mir erzählt. Und tatsächlich: Die Suchmaschinen des Internets spucken sogleich einige Artikel von ihm aus. Einer der das Ziel erreicht hat.

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Wir kommen ins Gespräch: Gesponsert von einer DER großen Marken, bereiste er die Welt. Bis nach Hawaii zur Pipeline hatte er es geschafft. Er hatte sie gestanden und überlebt – die wohl gefährlichste Welle der Welt. Sein Freund, der nur kurze Zeit später im selben Contest antrat, hatte weniger Glück. Er ertrank.
Der Meeresboden der Pipeline ist von riesigen Kratern durchzogen, was die weit brechende Barrel so gefährlich macht. Gerät man unter Wasser, kann man sich dort schnell festsetzen und hat Schwierigkeiten, wieder an die Oberfläche zu gelangen.

Ich hatte ihn gefragt, was dazu geführt hat, dass er es geschafft hat – sich aus der Masse der Jungs hier hervorzuheben und letztlich von einer der großen Surfmarken gesponsert zu werden. Wahrscheinlich war er doch schon damals hier, in jungen Jahren, von anderen talentierten Surfern umgeben. Seine Antwort lässt keinen Zweifel: Disziplin. Wer einen Sponsoren will, der ihn an Surfspots wie der Pipeline zum Surfen mitnimmt, muss diszipliniert sein. Das Training und die Vorbereitung für solche Wellen erfordern diese. Disziplin, so sagt Dedi, sei eine Charaktereigenschaft, die man eben hat – oder nicht.
„Das würde hier einigen fehlen“, meint er. Viele müssten sich kaum anstrengen – es sei zu einfach, von den Surftouristen Mahlzeiten oder andere Dinge zu bekommen. „Spenden ohne jede Nachhaltigkeit“, sagt er. Und ich verstehe, was er meint: Wenn einem vieles abgenommen wird, fehlt oft der Antrieb, sich wirklich zu bemühen oder langfristig etwas zu erreichen.

Auch wenn es nach außen hin nach einfachen Voraussetzungen aussieht, sind es für die Jungs hier oft Hürden, die kaum zu überwinden sind. Die Anforderungen, um etwa von einer bekannten Surfmarke gesponsert zu werden, wurden in den letzten Jahren immer strikter. Ein regelmäßiger Schulbesuch ist dafür inzwischen oft verpflichtend. Doch dem kommen hier längst nicht alle nach. Nicht nur die Kinder, auch viele Lehrer erscheinen unregelmäßig oder gar nicht. Wie soll da Verlässlichkeit vermittelt werden?
Ein bisschen Glück hatte Dedi wohl auch, denke ich, während ich ihm zuhöre und er von seinem Weg erzählt.

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Der Schritt hinaus aus dem Nimmerland

Bis zu seinem zehnten Lebensjahr hatte er keine Schule besucht. Aus Gründen, über die er nicht näher spricht, verließ er irgendwann sein Zuhause in Dompu, der nächstgelegenen Stadt, und landete am Peak. Dort half er in einem der wenigen Restaurants aus – im Austausch gegen Mahlzeiten. Geschlafen hat er unter der Theke.
Eines Tages begegnete er einem Videografen aus Kalifornien, der ihm anbot, ihn mit nach Bali zu nehmen – dorthin, wo dieser selbst lebte. Aus meiner Sicht war das wohl der Schritt hinaus aus dem Nimmerland. Der Abschied von den Lost Boys – oder dem Schriftzug auf seinem Longsleeve nach: Lakey Peak Boys. Raus aus einer Welt voller Freiheit, aber auch Unsicherheit. Ein Moment, der leise, aber entscheidend die Richtung vorgab.

Für Dedi war Bali eine völlig neue Realität. Er erinnert sich noch, wie er zum ersten Mal ein nagelneues Surfbrett in einem der Shops gesehen hatte. Wie gebannt habe er damals vor der Glasscheibe gestanden, erzählt er. Das Glassing, das Design, alles daran habe so unwirklich geglänzt.

Und doch kehrte er zurück. Nach Jahren im Profisport, nach Verletzungen und Umwegen war es schließlich die Pandemie, die ihn wieder an den Peak führte – dorthin, wo alles begonnen hatte. Zurück zu den Lost Boys. Auch wenn sie heute andere Gesichter tragen. Die Jungen von damals, mit denen er Wellen und Mahlzeiten geteilt hatte, sind inzwischen erwachsen geworden. Mittlerweile selbst Väter – und doch scheint sich die Geschichte weiterzudrehen – wie ein Kreislauf, in dem sich nur die Namen und Gesichter verändern.
Wer Peter ist, kann und will ich nicht abschließend beantworten.
War es Dedi?
Ist es Samu?
Vielleicht spielt das keine Rolle. Die Geschichte kennt viele Gesichter.
Wer auch immer den Weg ins Nimmerland findet, dem möchte ich mitgeben: Es bleibt jedem selbst überlassen, ob er in einem der hier lebenden Jungen einen Peter erkennt – oder einfach nur ein Kind, das im Rausch der Wellen ein Stück Kindheit bewahrt.

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Als ich mich spät am Abend auf dem Heimweg zu meiner Unterkunft mache, halte ich noch kurz am kleinen Supermarkt. Ein Eis soll es sein. Ein süßer Abschluss für diesen langen Tag, der einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt.
Das junge Mädchen an der Kasse schaut mich entschuldigend an.
Für meinen Geldschein hat sie kein Wechselgeld. „Bring’s morgen einfach vorbei“, sagt sie leise.
Ich nicke, nehme das Eis und verlasse den kleinen Laden.
Man kennt sich – so läuft das hier am Lakey Peak.

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