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Allein reisen und Surfen lernen – das geht auch mit Rollstuhl!

„Ich liebe das Wasser und ich mag es, dass Surfen etwas ist, das ich ohne meinen Rolli machen kann."

Text: Lena Korbjun


Menschen, die allein reisen und dabei ihr Surfbrett im Gepäck haben, gibt es inzwischen dank Globalisierung in großer Vielzahl. Unter diesen Weltenbummlern befinden sich inzwischen auch häufig allein reisende Frauen, die die Wellen dieser Welt erobern. Eine dieser Frauen ist Kerstin, 41 Jahre, aus Hamburg.

Aber es gibt einen Unterschied, Kerstin ist nicht nur mit Brett, sondern ebenfalls mit ihrem Rollstuhl unterwegs. Diese Tatsache unterscheidet sie von anderen Frauen und trotzdem mag sie nicht besonders sein und fürchtet sich vor einer Sonderbehandlung.
Aufgewachsen ist Kerstin, am Wasser an der Mecklenburger Seenplatte. Und eben dieses Wasser ist bis heute ihr Element. Das Element, in dem sie sich wiederfindet, indem sie sich und ihren Körper spürt und indem sie sowohl stark sein kann und indem sie einfach nur unglaublich Spaß hat am Leben. Im Wasser kann Kerstin zur Ruhe kommen, denn sie ist dort nur abhängig von der Natur – von den Wellen und von niemand anderem.

Schon als sie in der ehemaligen DDR auf eine Schule für Körperbehinderte eingeschult wurde, förderte eben diese Schule sie im Rollstuhlsport, ob Leichtathletik oder Radfahren. Sie begann, an Sportwettbewerben teilzunehmen. Die Reisen gehörten zum Sport.

„Ich bestritt mehrere Jahre Straßenrennen, Einzelzeitfahren etc. Da war ich schon volljährig und konnte selbst mit meinem Auto und meiner Ausrüstung überall hin. Das hat richtig viel Spaß gemacht. Die wohl schönste Reise und der größte Erfolg war der Europameistertitel in Frankreich. Dann ging es mit Rollstuhlfechten weiter. Der größte Erfolg und auch die schönste Reise war nach Ungarn wo ich Vizeweltmeister wurde.“

Und Kerstin fing an, nicht nur den Sport und die Unabhängigkeit zu genießen – sie verliebte sich ebenso in das Reisen und das Kennenlernen neuer Kulturen. Ihre Eltern, die selbst viel in fernen Ländern unterwegs waren, freuten sich über die Abenteuerlust ihrer Tochter. Sie vertrauten ihr. Ebenso ihre Freunde, niemand zweifelte je daran, dass sie heile zurückkommen würde.

„Die erste längere Reise die ich wirklich komplett alleine gemacht habe war 2011 nach Marokko. Dort bin ich mit dem Rucksack von der Küste bis zur Westsahara gereist. Das habe ich zu Fuß mit dem Bus oder per Anhalter gemacht. Ich sage immer „gehen“ oder „zu Fuß“ – da unterscheide ich nicht zwischen Rollifahrer und Fußgänger. Zuhause war ich bei Menschen die ich über Couchsurfing kennengelernt habe. Zuerst in einer zehnköpfigen Studentinnen-WG, später auf dem Steinboden eines Hauses einer lieben Familie oder in einem Zelt in der Wüste. Wie sehr ich diese Zeit genossen habe.“

Reisen bedeutet für Kerstin genauso wie für alle anderen Backpacker – Freiheit. Aber vor der Freiheit kommt auch ein ganzes Stück Arbeit im Voraus. Denn während ihrer Trips erfordert der Rollstuhl eine spezielle Art der Fortbewegung.

„Mietautos, Roller oder Räder kann ich ja nicht fahren. Taxen sind teuer und dafür gebe ich nur im Notfall Geld aus. Also bleiben Busse, Bahnen, per Anhalter oder zu Fuß reisen. Wenn ich zu Fuß unterwegs bin, dann habe ich mein Brett an meinem Rolli angebracht, den Rucksack auf meinem Rücken und eventuell noch eine kleine Tasche/Karte etc auf meinem Schoß. Und dann geht es los. Mit viel Zeit und Ausdauer. Es kam schon vor, dass ich so 20 bis 30 Kilometer durch die Hitze oder den Regen getingelt bin. In vielen Ländern sind die öffentlichen Verkehrsmittel nicht barrierefrei. Busse halten manchmal nicht an und man kann lediglich aufspringen. Dann stelle ich mich schon mal mitten auf die Straße und zwinge sie so zum Anhalten. Das ging bisher immer gut.“

Neben der anderen Form der Fortbewegung gilt es für Kerstin gleichermaßen Aufklärungsarbeit zu leisten, denn ihr autarkes Reisen wirft häufig Fragen auf.

„Es gab schon oft Flughafenpersonal, das mir den Pass weggenommen hat, weil sie denken, dass ich ohne Begleitung nicht reisen darf. Ich weiß nicht, wie viele Formulare ich in meinem Leben schon auf Flughäfen unterschreiben musste, auf denen ich bestätigte, dass ich alleine auf die Toilette gehen kann. Und das war erst der Anfang der Liste.“

Viele Gespräche muss sie vor einer Reise führen. Alles ist anders als bei anderen Backpackern, die ihren Rucksack auf dem Rücken auf zwei Beinen durch die Gegend tragen und dennoch sucht Kerstin die Abgeschiedenheit während ihrer Reisen. Die Aufmerksamkeit großer Touristenorte und damit auch die Mehrzahl an behindertengerechten Infrastrukturen tauscht sie gegen die Regionen, in denen sie improvisieren muss, aber eben auch nicht tausende Blicke auf ihr haften.

„Schon klar, dass man als Rollifahrer auch auffällt und Menschen oft Fragen haben oder verstohlen rüber sehen und meinen, ich merke es nicht. Das kann ich alles nachvollziehen. Aber ich mag es eben nicht.
Man hat das im Alltag genug.“

Andere Länder haben nicht nur einen kulturell anderen Umgang mit Geschlechtern, wie Frauen immer wieder in Reiseforen berichten, sondern das kulturelle Bewusstsein über körperliche- oder geistige Behinderungen führt zu unangenehmen, aber auch besonderen und von Hilfsbereitschaft bestimmten Situationen, in denen Kerstin sich befindet. Auch wenn sie mal ein Taxifahrer in Norwegen nicht mitnehmen möchte oder sie in Südafrika keine Gelegenheit bekommt im Buschtaxi mitzufahren, sagt sie selbst, dass gerade die Hilfe, die ihr trotzdem immer wieder zu Teil wird, jede Reise besonders macht.

„Ich hatte eine Herberge gebucht. Als ich dort eintraf stellte sich heraus, dass sie nicht barrierefrei war, obwohl man mir am Telefon eine andere Auskunft gab. Weil ich erstmal nicht wusste, was ich machen sollte, ging ich zur Bar und bestellte mir ein Bierchen. Die Dame an der Bar und ich kamen ins Reden. Die nächsten zwei Nächte durfte ich in ihrem Gartenhaus campieren. Aus der Not heraus ergeben sich oft die tollsten Sachen.“

Damit könnte diese Geschichte schon geschrieben sein. Aber Kerstin wäre nicht sie selbst, wenn sie nicht nach weiteren Herausforderungen suchen würde. Nach einem Film über das Surfen der ausgerechnet unvorstellbar gefährlichen Big Waves (das Surfen Haus hoher Wellen) entschließt sie sich dazu, auch auf einem Surfbrett ihre Verbundenheit zum Wasser ausprobieren zu wollen. Jeder der schon einmal im Wasser auf einem Surfbrett stand und es sich auch noch selbst beigebracht hat, weiß um die Willenskraft und körperliche Fitness, die ein Ritt in den Wellen benötigt.
Allen anderen sei gesagt, beim Surfen werden Konzentration, höchste körperliche Leistungen und eine wache Koordination zusammen zu einem Sport verbunden, bei dem sehr viel Ausdauer benötigt wird, um ihn zu erlernen.

Nach eingehender Recherche sitzt Kerstin im Jahr 2013 im Flugzeug nach Hawaii. Gleich am ersten Tag trifft sie Eddie von Access Surf, einer Organisation, die Menschen mit körperlicher Behinderung im „Adaptive Surfen“ (Surfen für Menschen mit einer Einschränkung) unterrichtet. Wie bei anderen Surfunterrichtsstunden wird Kerstin beigebracht, was sie am Surfbrett und in den Wellen beachten muss. Zusammen mit ihrem Lehrer paddelt sie raus – in die Freiheit auf den Pazifik in O’ahu. Sie fühlt sich selbst in einem Einklang mit ihrem Körper und die Kraft des Meeres.

„Zehn Minuten später surfte ich meine erste Welle bäuchlings, am Brett festgekrallt in den schönsten vorstellbaren Sonnenuntergang. Seither läuft es bei mir folgendermaßen: Learning by Doing!“

Der geneigte Backpacker fragt sich häufig, wie er auch noch ein Surfbrett mit ins Flugzeug oder an abgelegene Surfspots bringen soll und auch Kerstin wird ständig mit dieser Frage konfrontiert. Nach einigen Erfahrungen mit unangenehmen Surfbrettverleihern, die ihr kein Surfequitment überlassen wollen, entschließt sie sich, dass sie selbst gestalten möchte, wohin sie fährt und das gilt ebenfalls für die Reisen mit dem Surfbrett. Hawaii bringt Kerstin dann noch einmal mehr Improvisationskunst bei.

„Seit einiger Zeit habe ich ein Surfboard Rack für meinen Rolli. Ein ziemlich gewitzter Typ in einem kleinen Surfshop in Honolulu hat mir ein Rack für ein Moped/Fahrrad angebaut und eingestellt. Das ist so cool und eröffnet mir so viele Möglichkeiten. Selbst mein Longboard ist kein Problem. Erst hatte ich Angst, dass ich dann wie ein dicker Käfer auf der Seite liegen würde, aber es ist total ideal.“

Um noch ein Stückchen mehr Unabhängigkeit erfahren zu können, ist ebenfalls ein Van ihr zu Hause. Mit dem umgebauten Bus fährt Kerstin zu Surfstränden, an denen sie mit ihrem Rollstuhl soweit am Strand entlangfährt, bis es nicht mehr geht. Dann gleitet sie hinunter auf den Hintern. Mit ihrem extra dicken Neoprenanzug robbt sie auf dem Po bis zur Wasserkante. Und das Brett wird dabei immer vor ihr her geworfen, möglichst ohne es zu beschädigen. Der Sand, auf den sie trifft, ist bevorzugt gefroren oder zumindest sehr kalt. Die Wahl-Hamburgerin favorisiert nämlich das Surfen in kalten Gewässern.

„Auch wenn ich in Hawaii das Surfen gelernt habe und immer wieder gerne dahin zurückkehre, so
gehört mein Herz doch dem kalten Wasser. Ich bin gerne auf Island, in Skandinavien und auch
Russland ist wundervoll. Die Gegenden sind wunderschön und ich mag es kalt. Man fühlt sich viel
lebendiger, möchte ich sagen. Ein anderer Vorteil ist, dass die Strände meist menschenleer sind.“

Den Hintern verbrennt sie sich also nicht im Sand, aber trotzdem gibt es Momente, die ihr Angst machen. Nichts Besonderes beim Surfen, jeder der sich in größere Wellen wagt, hatte schon einmal so einen Moment, wenn man unter Wasser merkt, dass einem die Luft ausgeht. Aber wie fühlt sich so ein Moment an, wenn einen nur eine Körperhälfte retten kann.

„Mich persönlich hat die Angst bisher erst ein einziges Mal gepackt. Eine sehr starke Strömung trieb mich ab. Es war kalt, es regnete, es war windig und dauerte ziemlich lange, bis ich wieder einen Zugang Richtung Strand fand. In einem 6 mm Wetsuit einige Kilometer parallel zum Strand zu paddeln, hat mir einiges abverlangt.“

Den Nachteil eines nicht voll funktionierenden Unterkörpers legt sie zu ihrem Vorteil aus und so ist Kerstins Oberkörper beim Paddeln trainierter als der vieler anderer Surfer. Sie weiß, dass sie mit ihrer Ausdauer auch schwierige Situationen meistern kann. Surfen gibt ihr gleichzeitig auch Energie zurück.


„Ich liebe das Wasser und ich mag es, dass Surfen etwas ist, das ich ohne meinen Rolli machen kann. Selbst wenn die Wellen mal zu klein zum Surfen sind, paddle ich raus, setze mich auf mein Brett und lass mich treiben. Teil dieses wundervollen Aktes der Natur zu sein, ist mit das Schönste,
was ich mir vorstellen kann.“

In einer Bescheidenheit und mit einer Kraft erzählt sie begeistert und gleichzeitig sanft von ihrer Liebe zum Surfen. Auch wenn sie nicht bewusst ein Vorbild darstellen möchte, so kann sich jeder ein Beispiel an ihrem Mut und ihrer Kraft nehmen – egal ob im Rollstuhl oder auf zwei Beinen – alles ist möglich. Und für Kerstin heißt das, sich ihren Traum zu erfüllen und irgendwann in den eisigen Wellen von Kamtschatka in Sibirien zu surfen.

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